Der ganze Wahnsinn der letzten Tage entgeht ja niemandem, es wird allerorts fleißig kommentiert und – wie hier von Thomas Knüwer – klug analysiert.
Das Rezo-Video. Und das andere. Das CDU-Fax. Sorry: PDF. Die Europawahl in Deutschland. Die Tatsache, dass die CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer gerne Meinungsäußerungen „regulieren“ möchte, damit aber natürlich keine Zensur meinen will.
Ich versuche mal einen positiven Blickwinkel.
Denn ich habe selten so viel positives zivilgesellschaftliches Engagement, so viel politisches Interesse und Handeln gesehen, erlebt und verspürt wie in den letzten Monaten. Junge Menschen gehen für einen aktiven und radikalen Klimapolitikwechsel auf die Straße und lassen sich dabei von Häme, Spott und Missgunst einiger Medien und Politiker*innen nicht beirren, sondern verbünden sich mit der Wissenschaft und allen anderen, die konkretes Handeln fordern. Sie lassen sich dabei auch nicht durch Klagen von Unternehmen einschüchtern. Weitere junge Menschen demonstrieren gegen eine Gesetzgebung, die ihren digitalen Lebensraum einschränken soll. Und sie veröffentlichen eben Videos, die ihren ganz eigenen Klartext sprechen und dabei keineswegs nur ihre eigene Altersklasse ansprechen. Das ist wichtig und auf vielen Ebenen ein medialer, politischer, gesellschaftlicher Durchbruch.
Hätten nämlich die oben beschriebenen Demos, Beschwerden und Videos „nur“ innerhalb einer jungen Generation stattgefunden, würden sie niemanden interessieren, schon gar nicht den Großteil der Parteien, denn nur rund 15% der Wahlberechtigten in Deutschland sind unter 30 Jahre alt. Zum Vergleich: Rund 21% sind älter als 70.
Insgesamt interessieren sich die Älteren nicht besonders für die junge Generation und ihre Medien- und Gedankenwelt. Seit Jahren entsteht auf YouTube und in anderen Online-Kanälen eine kulturelle, gesellschaftliche, politische und mediale Parallelwelt, in der man neben vielen tollen, lustigen, spannenden und lehrreichen Videos auch rechtsextremen, sexistischen, rassistischen, misogynen, verschwörerischen Un- und Wahnsinn findet, mit dem junge Menschen alleine klarkommen müssen und von dem einige von ihnen geradezu ausgebildet werden – YouTube und andere Kanäle können durchaus radikalisieren.
Und es gab und gibt selten Reaktionen von „erwachsenen“ Medien (sehr wichtige Ausnahme: Die Öffentlich-Rechtlichen mit funk) oder gar Politiker*innen darauf. Kaum Schulen, die diese Medienwelt thematisieren, die Schülerinnen und Schüler im Umgang damit schulen. Kaum Hilfsangebote. Zum bekannten demographischen Ungleichgewicht gesellte sich in den letzten Jahren also ein gigantischer medialer Wandel, der eine junge Generation nicht nur befähigt, sondern auch in eine gewisse Isolation geführt hat. Zwar schicken Eltern und Großeltern fleißig Whatsapp-Nachrichten an die ganze Familie, aber von dem, was auf Instagram, Snapchat, TikTok und vor allem bei YouTube los ist, bekommen wir Alten nicht viel mit. Manchmal ist das richtig und der Lauf der Dinge, jede junge Generation braucht schließlich ihre eigenen Räume. Manchmal ist es aber eben auch die sträfliche Vernachlässigung einer ganzen Generation.
Denn erst jetzt, wenn YouTuber*innen sich direkt und mit klaren Worten an die CDU- und SPD-Generation wenden und sie dabei auch durchaus angreifen, versuchen Politiker*innen plötzlich und meist erfolglos, Worte wie „YouTuber“ und „Influencer“ auszusprechen, ohne dabei ins Stottern zu geraten.
Seien wir ehrlich: Diese jungen Leute, ihr digitaler Lebensraum, ihre Sorgen, Nöte, Realitäten, täglichen Herausforderungen, Meinungen interessierten kaum jemanden. Bis jetzt.
Denn jetzt ist es plötzlich, als wäre eine ganze Generation jahrelang in einem Trainingscamp für (nicht nur) digitale Kommunikation gewesen und käme nun zurück, um es mit ihren gelernten Skills allen zu zeigen. In Sachen Kommunikations- und Reaktionsgeschwindigkeit, bei der Erstellung von Inhalten und Memes, bei der parallelen Pflege vieler verschiedener Kanäle, bei der Vernetzung mit Gleichgesinnten, aber auch bei der Online-Recherche macht den aktiven Teilen dieser Generation niemand etwas vor. Wer League of Legends, Fortnite oder PUBG beherrscht, für den ist die Smartphone-Bedienung von digitalen Kommunikationsplattformen das sehr viel leichtere Spiel, und wer jahrelang hunderte, tausende hasserfüllte Kommentare bei YouTube ertragen hat, für den ist das bisschen Rumgepöbel in zwölf Tweets, das sensible Ältere sofort als „Shitstorm“ bezeichnen, ein gemütlicher Spaziergang durch den Social-Media-Wald. Im Sonnenaufgang. Mit einem Eis in der Hand. Gehen Sie mir aus dem Weg, ich habe eine Waffel.
Das mit vielen anderen YouTuber*innen entstandene Video „Ein Statement“ ist ein hübscher Beweis für meine Behauptungen. Während man im Konrad-Adenauer-Haus Film-, Licht-, Sound- und Junge-Union-Equipment platzierte, um eine Videoantwort auf Rezos ersten Rant zu produzieren, die dann (zum Glück) doch nicht veröffentlicht wurde, während man parallel eine 11-seitige, schriftliche Antwort formulierte (THE PDF, siehe oben) und während sich gleichzeitig CDU-Mitglieder und andere mit Derailing und Diskreditierungen in Tweets und Facebook-Posts beschäftigten, ignorierte Rezo dies alles, baute mit der Unterstützung mehrerer Dutzend YouTuber*innen, bei denen das ganze Equipment sowieso einsatzbereit im Zimmer steht, einen offenen Brief und eine Wahlempfehlung als Video zusammen. Und knallte diese am folgenden Tag raus, ohne weiteren Kommentar und ohne auf die geäußerte Kritik an seinem ersten Clip überhaupt einzugehen.
Don’t feed the trolls.
Agieren statt Reagieren.
Eigene Themen setzen, nicht auf Derailing oder Beleidigungen eingehen.
Das sind Kompetenzen der digitalen Kommunikation.
Klar: Eine lose Gruppe von Aktivist*innen kann immer schneller sein als ein Apparat mit Hierarchien. Doch was eine solche Gruppe oder Einzelne produzieren, muss auch gut und gut gemacht sein, um über die YouTube-Grenzen hinweg anzukommen. Und das war bei den Rezo-Videos der Fall, denn ansonsten hätten die Clips höchstens ein paar hunderttausend Aufrufe in der YouTube-Szene gehabt und die CDU hätte weiter denken können, ganz Deutschland fände sie toll. Doch durch die offengelegte Recherche, durch die umfangreichen Quellenangaben im ersten, und durch die YouTube-Genre-übergreifende Auswahl der Beteiligten im zweiten Video (die dennoch sehr viel diverser hätte sein können und müssen) fanden die Clips Verbreitung über die üblichen Grenzen hinaus. Kinder und Jugendliche zeigten sie ihren Eltern und Großeltern. Und denen liegt das, was dort gesagt und gefordert wurde, ebenfalls am Herzen. Nämlich eine lebenswerte Zukunft und ein diesbezügliches Handeln der Politik. Was die für manche Leute offenbar äußerst provokante Essenz der Videos ist. Dass dabei besonders CDU und SPD ihr Fett abbekommen: Ja nun. Sie sind es, die für die Versäumnisse verantwortlich gemacht werden. Sie waren und sind nämlich sozusagen auf eine Art naja wenn wir mal ganz ehrlich sind die Regierung.
Zwischenbemerkung: Ich habe in den letzten Tagen an einigen Stellen lesen können, dass „die Jugendlichen“ ja sowieso niemals die CDU gewählt hätten, aber da sollte man sich nicht verschätzen. Wir erleben hier eine Generation, die keine andere Kanzlerin als Angela Merkel kennt, und sie hat – anders als Helmut Kohl zu meiner Zeit – ein eher positives Bild geliefert. Die CDU/CSU ist nun aber in den letzten Jahren den Rechtsextremen hinterhergerannt, hat sich der „Sorgen“ von Rassist*innen angenommen, hat versucht, die vermeintlich an Rechtsaußen verlorenen Wähler*innen einzufangen. Statt sich gegen die Lügen der „Grenzöffnung“ zu stellen, statt die Menschlichkeit und auch die internationale Souveränität der Kanzlerin aus der eigenen Partei hochleben zu lassen, hat sie an vielen Stellen nach der Pfeife der AfD getanzt. Und Annegret Kramp-Karrenbauer und viele andere CDU-Politiker*innen zeigen jetzt sehr deutlich, wie sich die Partei selbst sieht und wo sie wieder hin will, zu diesem verstörend gestrigen Welt- und Deutschland-Bild, dieser 50er-Jahre-Mutter-Vater-Kind-Sicht und zum Altherrenwitz. Zur Partei der Wirtschaftslobbyisten, Unternehmen und Sehrgutverdienenenden, zu genau der Spießigkeit, Verkrampftheit und Visionslosigkeit, die sie für mich schon immer repräsentiert. Ich werde Angela Merkels Politik nicht in den Himmel loben, denn natürlich trägt sie die Verantwortung für die Versäumnisse in der Klimapolitik, bei der Digitalisierung und vielen anderen Themen. Aber man kann ja trotzdem nur einen gewissen Respekt für ihre Arbeit haben, wenn man sich ihre Partei jetzt ansieht. Dass junge Menschen die CDU nicht schon vorher als ihren natürlichen Feind betrachtet haben, war allein Merkels Verdienst. Diese Jungen haben die CDU nicht so gestrig empfunden, wie ich das tue. Weil sie das Image von Angela Merkel mit der CDU verbunden haben. Aber das ist jetzt vorbei. Jetzt sind da AKK und Tankred Schipanski. Und Ruprecht Polenz ist halt außer Dienst.
Das Tollste an dieser Video-Diskussionswelle, das Tollste auch an der FridaysforFuture-Bewegung ist aber: Endlich! Endlich! Endlich gelingt es, wirklich drängende Themen auf die Agenda zu setzen, die nicht von Rechtsextremen bestimmt werden und zu denen sie auch absolut nichts beizutragen haben (als hätten sie das bei anderen Themen, aber ihr wisst, was ich meine). Nachdem ein viel zu großer Teil der Politik- und Medienlandschaft jahrelang den angeblichen „Sorgen“ der „Bürger“ hinterhergelaufen sind, die man doch erst nehmen müsse, kommen plötzlich Jugendliche und machen klar: Die wahren Themen und Sorgen liegen ganz woanders. Ich glaube, auch das ist ein Grund für den Support, den die Jungen gerade von den älteren Generationen erfahren: Wir sind auch ein bisschen erleichtert. Es geht. Es geht, sich nicht von Irren aus dem rechten Lager vorführen zu lassen, ihnen nicht die Diskussionshoheit zu überlassen. Genau das zu beweisen, wäre in den vergangenen Jahren Aufgabe der demokratischen Politik und Medien gewesen, genau daran scheiterten sie aber und tun das teilweise noch immer. Stattdessen machen das jetzt Schülerinnen und Schüler.
Wer nun denkt, ja gut, diese Jungen, die machen jetzt halt dieses Klima-Fass auf und dann ist gut, der denkt leider doch nicht. Ich bin nicht zuletzt durch meine eigene Arbeit mit Jugendlichen davon überzeugt, dass da noch sehr viele andere Themen auf uns zukommen. Es werden noch mehr Forderungen laut werden. Forderungen nach einem kompletten Umbau des Bildungssystems, nach guten Schulen. Nach einem Wahlrecht ab 16 (mindestens). Nach Grundrechten im Digitalen. Nach Selbstbestimmung der sexuellen Identität. Nach Chancengleichheit für alle. Und danach, keinen einzigen Menschen mehr im Mittelmeer oder anderswo ertrinken zu lassen.
Zieht euch warm an.
Und freut euch.
Denn selten zuvor gab eine derart große Chance, Menschen außerhalb der Parteiarbeit an politischen Prozessen teilhaben zu lassen. Wir reden zu viel über Propaganda und Fake-News im Netz, das wir ebenso für echte Partizipation, Recherche und Fakten nutzen können. Alle Parteien müssten froh sein über den aktuellen Trend zum Willen zur politischen Teilhabe, sie sollten ihn nutzen. Denn es kommen noch so viele andere Themen auf uns zu, die nur durch echte Beteiligung der Bevölkerung, gerade der jungen, lösbar sind. Führt endlich das Wahlrecht ab 16, gerne auch auch gleich ab 14 ein (wir reden dann in Ruhe über den nächsten Schritt „Wahlrecht ab Null“). Führt bundesweite Bürger*innenversammlungen ein. Seid im besten Sinne des Wortes radikal. Wenn ihr es jetzt nicht seid, schafft ihr euch selbst ab. Siehe CDU.
Prognose: Ende der GroKo spätestens im Herbst, nach der nächsten Bundestagswahl Kanzlerin Habeck oder Baerbock, dann sehen wir weiter.
— Self Promotion —
Wenn ihr bis hierhin gelesen habt: Seit vier Jahren veranstalten wir mit dem gemeinnützigen TINCON e.V. in Berlin, Hamburg, Düsseldorf und demnächst München Jugendkonferenzen, bei denen sich 13- bis 21-Jährige vernetzen, in Workshops fortbilden, auf den Bühnen stehen und ihre eigenen Themen diskutieren. Fast alle Talks stehen auf YouTube zur Verfügung (es sind mittlerweile über 200 Clips mit rund 3,5 Millionen Views), Fotos der Events findet ihr hier.) Unser kleines Team arbeitet direkt mit Jugendlichen zusammen. Ihr könnt diese Arbeit unterstützen, indem ihr Fördermitglieder werdet oder etwas spendet.
Und wenn ihr kein Geld auf Tasche habt, dann helfen auch ein paar Klicks. Denn die TINCON ist für einen Spezialpreis bei Grimme-Online-Award nominiert, bei dem es auch ein Publikumsvoting gibt. Über eure Stimmen für uns freuen wir uns sehr, denn die Aufmerksamkeit, die wir und die junge Generation durch solche Auszeichnungen erhält, hilft uns bei Förderer*innen, in den Medien und bei anderen Partner*innen. Danke für euren Support!